Samstag, der 12. März 1977

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Samstag, 12. März 1977

Die Bezirkskonferenz in Schwechat war nicht nur sehr gut besucht,
sondern auch die Diskussion für mich sehr interessant. Zum ersten
Mal wurde ich von einem Diskussionsredner gefragt, wie ich mich
eigentlich als Praktiker zu dem Parteiprogramm 1958 Überwindung des
Kapitalismus und zu den neuen Programmentwürfen von Prof. Matzner
usw. stelle. Ich hatte dort Gelegenheit, leider nur im Schlusswort
und daher nicht allzu viel Zeit die sozialdemokratische Marktwirt-
schaft, wie ich sie immer bezeichne, zu erörtern. Die ideologische
Auseinandersetzung wird mir persönlich auch nicht erspart bleiben.
Momentan kann ich mir noch sehr leicht über einige Schwierigkeiten
hinweghelfen, um nicht zu sagen mich hinwegschwindeln. Dass es keinen
Kapitalismus im Sinne des Manchester-Liberalismus bei uns je ge-
geben hat und deshalb unsere kapitalistische Wirtschaft eine andere
ist als wir sie sonst in Westeuropa finden, gibt dem ganzen Problem nur
eine andere Nuance. Die Gretchen-Frage ist und bleibt, ob und inwie-
weit dieses kapitalistische System überwunden werden soll und muss.
Die Alternative im extremsten Fall die zentral gelenkte Plan-
wirtschaft hat ja ebenfalls total versagt. Mein Ausweg, jetzt zu
erklären, die Marktwirtschaft sozialdemokratisch zu gestalten, ist ein
guter Gag, vielleicht sogar auch ein Slogan aber natürlich noch
kein ins Detail gehendes Programm. Ausserdem liegt mir nichts ferner,
als jetzt eine Programmdiskussion mit mir selbst zu führen. Anderer-
seits werden meine pragmatischen Vorschläge auch nicht ausreichen,
wenn sie nicht zielgerichtet in einem grösseren Konzept verankert
sind. Das letzte aber was ich möchte wäre, die Programm vollkommen
links liegen zu lassen. Ein typisches Beispiel aus der Vergangenheit
war einmal eine Diskussion, die ich in den Fünfzigerjahren mit
Sagmeister mitgemacht habe. Dieser war ein ausgesprochener
Pragmatiker vom Konsum kommend wahrscheinlich auch wie viele
von ihm behaupteten, ein richtiggehender kapitalistischer Vertreter
der Wirtschaftsauffassungen wie selten ein anderer, er hatte einmal
eine Schwierigkeit mit irgendeinem Problem, das er nicht pragmatisch
so wie er es wollte, lösen konnte und deshalb zu meiner grössten
Verwunderung erklärte, die verlangt auch unser Parteiprogramm.
Ich will ihm nicht unrecht tun und vielleicht meinte er es damals
auch wirklich ernst. Der Eindruck bei mir aber wahrscheinlich auch
bei allen anderen war, dass ihm das Parteiprogramm nur als Ausrede
diente. So etwas möchte ich wieder auf gar keinen Fall.



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Bei meinem stundenlangen Messebesuch kam mich auch Unternehmer-
vertreter der Stahlindustrie angesprochen, wie es jetzt mit
dem Streikbeschluss weitergehen sollte. Zu meiner grössten Ver-
wunderung aber wurde ich dann auch noch von Eissler bei einer
Direktübertragung im ORF-Studio auf der Messe auf dieses Problem
angesprochen. Meine Antwort darauf war, dass ich hoffe, dass es
noch gelingen wird, ein vernünftiges Kompromiss zu erreichen und
der Streik unterbleibt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch gar nicht
gewusst, dass Kreisky sich eingeschaltet hat, da ich überzeugt
bin, dass die Unternehmer selbst überrascht waren, dass es jetzt
schon zu dem Streikbeschluss für Montag gekommen ist, obwohl man es
ihnen klar und deutlich sagte, wird jetzt Sallinger natürlich alles
unternehmen, um diesen Streik zu verhindern. Mir ist nämlich auch
vollkommen unerklärlich, wie man in der Unternehmerschaft bei einer
so starken Organisation wie die Metallarbeiter es sind, es zu einem
solchen Streik kommen lassen kann. Ich bin überzeugt, dass Benya
wenn man ihm nur einen Schritt in der Frage der Abfertigung und der
Berechnung der Urlaubs- und Weihnachtsremuneration entgegengekommen wä-
re, es niemals zu solchen Kampfmassnahmen käme. Natürlich ist diese
Frage ein für die Bundeshandelskammer äusserst kritisches Problem.
Ich kenne aus den Verhandlungen bei unserer Gewerkschaft, dass
die Berechnung des 13. und 14. Bezuges meines eine prinzipielle
Frage wird. In der starken Industrie versucht man, die effektiven
Verdienste der letzten 13 Wochen als Grundlage für den 13. und
14. heranzuziehen. Die Handelskammer ist bereit, nur die reinen
Kollektivvertragslöhne als Grundlage der Berechnung anzuerkennen.
Auch wir haben bei unseren Verhandlungen immer solche Schwierigkeiten.
Dort habe ich, als ich in die Gewerkschaft gewählt wurde, sofort er-
klärt. ich werde niemals die Verhandlungen selbst führen. Meiner
Meinung nach ist es notwendig, dass eine Instanz noch existiert,
wenn die Verhandlungen scheitern, an die man sich wenden kann.
Bei uns ist die glückliche Situation, dass, wenn Blümel und das
Verhandlungskomitee nicht weiterkommen, dann doch ein Appell
an den Obmann der Nahrungs- und Genussmittelindustrie und an den
Obmann der Lebens- und Genussmittelarbeitergewerkschaft erfolgen kann.
Wir können daher unsere Probleme doch noch weitestgehend im eigenen
Rahmen lösen. Entgegen meiner Ansicht war es Benya bis jetzt nicht
möglich, die Metallarbeiter-Obmannstelle zurückzulegen. Erst jetzt
soll dies im Mai beim nächsten Verbandstag der Metallarbeiter erfolgen.
Dadurch war Benya der ausserdem immer gleich die Verhandlungs-
delegation selbst leitete, bei der jahrzehntelangen Tätigkeit inner-
halb der Metallarbeiter der Sprecher und Verhandler für Lohnfragen.



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Bis jetzt ist es immer gut gegangen. Jetzt aber, wo es zum
Scheitern der Verhandlung gekommen ist, kann auch nicht mehr
an ihn als ÖGB-Präsident appelliert werden. Erstmalig seit 1945
wird deshalb als Appellationsinstanz der Bundeskanzler herange-
zogen. Kreisky hat selbstverständlich diese Gelegenheit genützt,
und Benya und Sallinger zu sich gebeten. Wenn dieser Vermittlungs-
versuch gelingt und ich zweifle nicht daran, dann hat Kreisky
einen Erfolg, den noch kein Bundeskanzler seit 1945 für sich buchen
konnte.

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Tagesprogramm, 12.3.1977


Tätigkeit: GD KGW


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    Tätigkeit: ÖGB-Präs., NR-Präs.
    GND ID: 119083906


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      Tätigkeit: Ökonom


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        Tätigkeit: Bundeskanzler
        GND ID: 118566512


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          Tätigkeit: LUGA-Zentralsekretär


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            Tätigkeit: Handelskammer-Präsident


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