Donnerstag, 26. September 1974
Eine Frau Kirsch, Wärmetechnisches Büro hat unbedingt eine Aus-
sprache mit mir verlangt und es stellt sich dann heraus, dass
sie einen nicht einwandfreien Warenexport getätigt hat. Das Ganze
war sehr kompliziert, ich bin nur sofort daraufgekommen, dass
hier nicht stimmt, als sie einleitete, sie sei eine Steuerzahlerin,
die auch bei diesem Geschäft dem Finanzminister entsprechenden Tribut
bezahlen müsse, weshalb sie von mir erwartet, dass sie entgegen
meine Beamten eine Weisung zu geben habe, damit ihr Geschäft
genehmigt wird. Ich habe noch bei ihrer Anwesenheit mit Meisl
telefoniert und dezidiert erklärt, dass ich eine genaue Prüfung,
aber keinerlei Protektion wünsche.
Dkfm. Moik, der seit Jahren die Bilanzen angeblich gut analysiert
und der Arbeiterkammer immer die Unterlagen geliefert hat, welche
dann Mayer den Betriebsräten erläutert, möchte, dass wir jetzt ein
Institut gründen, in welchem er die Bilanzanalysen namens des Insti-
tuts fortsetzen würde. Er behauptet von 500 Aktionsgesellschaften
130 Bilanzanalysen zu machen, wovon er 100 mit der Firma sogar
gemeinsam erstellt und sogar bespricht. Vielleicht ist dies der
Grund, warum andere wieder behaupten, seine Bilanzanalysen seien
gar nicht so wertvoll, wie es den Anschein hat. Moik verdient bei
diesem Geschäft 500.000 S brutto, hat bereit mit dem österr.
Wirtschaftsforschungsinstitut Besprechungen aufgenommen, ob er nicht
dort unterkommen kann. Mit der Z, Dr. Jabinger, hat er verhandelt,
damit dieser ihm einen Raum mit Sekretärinnen zur Verfügung stellt,
und nachdem dies alles gescheitert ist, meinte er, wir sollten
ein Institut gründen. Ich habe ihn nicht im Unklaren gelassen,
dass eine Institutsgründung vom Handelsministerium nicht in
Frage kommt. Er beurteilt seine Bilanzanalyse so hochwertig, dass
er der Ansicht ist, sie ist besser als die in der BRD durchgeführten.
Ich habe Moik nur erklärt, ich werde mit der Arbeiterkammer die ganze
Angelegenheit besprechen, weil ich keinesfalls irgendwelche Schrit-
te unternehme, selbst nicht in Unterstützung seiner Idee, wenn
nicht die Arbeiterkammer ebenfalls die Meinung hat, dass wir ein
solches Institut irgendwo errichten sollen.
ANMERKUNG FÜR BUKOWSKI: Bitte mit Zöllner bei nächster Gelegen-
heit das Problem im Institut besprechen.
Präs. Weiss hat mit Bundesparteiobmann Schleinzer die Aussprache
über die Elektrizitätspolitik gehabt und teilte Frank und mir
offiziell mit, dass sie nun bereit sind, doch die personellen Än-
derungen durchzuführen. Sekt.Chef Frank kann anstelle des in Pen-
sion gegangenen Sekt.Chef Cech, ohne dass die ÖVP darin einen Affront
sieht, im Verbund-Aufsichtsrat ausgewechselt werden. Weiss ersucht
nur, dass dies nicht sofort geschieht, damit Cech noch bei der
Aufsichtsratssitzung am 3. Oktober teilnehmen kann. Für die so
wichtige Aufsichtsratssitzung im Dezember, wo bereits die Finanzen
und finanziellen Vorausschauen beschlossen werden sollen, wird
dann schon Frank nominiert sein. Hier bedarf es nur eines Beschlusses
der Bundesregierung und die ÖVP wird dies zur Kenntnis nehmen.
Die Abberufung von Cech bei der Donaukraftwerk, welche ich bekannt-
lich auch verlangt habe und wofür Gehart nominiert wird, soll
ebenfalls noch heuer erfolgen, doch ersucht Weiss, dass wir dies
erst im November in Angriff nehmen. Ich begründe neuerdings,
dass Gehart nicht eine politische, sondern eine sachliche Notwen-
digkeit ist. Gehart hat mit mir die Energiefragen zu besprechen,
bearbeitet auch von der politischen Seite her dieses Problem, ich
kenne ihn schon jahrelang, er ist seit 1. Jänner 1974 auch der
Verbindungsmann zur Sektion V in meinem Ministerium und gleich-
zeitig Abteilungsleiter für die Grundsatzabteilung. Weiss weist
darauf hin, dass bevor diese Reorganisation im Aufsichtsrat der
Donaukraftwerke gemacht wird, auch die gewünschte Reorganisation
im Vorstand durchgeführt werden sollte. Hier hat Weiss zugegeben,
dass es zweckmässig ist, wenn Baumgartner von den Ennskraftwerken
in den Vorstand der Donau aufgenommen wird. Nur so ist es möglich,
die Reorganisation zwischen Enns-, Donau- und auch des Gemeinschafts-
kraftwerkes Stein durchzuführen. Weiss gibt zu, dass die Idee,
die Ennskraftwerke direkt der Verbund zu unterstellen, wie es
insbesondere der Verbundvorstand Zach scheinbar aus machtpolitischen
Gründen, damit er einen grössen Einflussbereich und seine Geschäfts-
einteilung aufgepäppelt wird, unzweckmässiger ist, als mein Vorschlag
die Enns mit der Donau zu vereinen. Hier würde in Hinkunft ein
Schwellbetrieb von einer gemeinsamen Betriebsgesellschaft Enns-Donau
durchgeführt werden. Schon allein aus diesen sachlichen Gründen
glaube ich ist Weiss derselben Meinung wie ich und hat dies
auch gegenüber Schleinzer und den Herren der Verbund gesagt. Haupt-
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schwierigkeit ist nur, dass Direktor Hermann von der DoKW
fürchtet, dass sein Einfluss durch ein viertes Vorstandsmitglied,
nämlich Baumgartner von der Enns, eben zu sehr eingeschränkt wird.
Ich wiederhole Weiss gegenüber, dass ich ja, wenn ich so etwas
beabsichtigt hätte, dann ohne ein viertes Vorstandsmitglied zu
bestellen z.B. Kobilka zum Generaldirektor bestellen können und
dadurch Hermann wesentlich schlechter abschneiden würde, als wenn
es zu einer vernünftigen Geschäftseinteilung zwischen den vier
Direktoren kommt. Wenn der Direktor Schienzl und Baumgartner in
drei Jahren in Pension geht, dann wird wenn die Hauptaufgabe der
Reorganisation zwischen Enns und Donau abgeschlossen ist, eben
wieder nur ein zweigliedriger Vorstand bestellt. Durch die sachlich
begründete Reorganisation müssen die 188 Beschäftigten der Enns
auf ca. 100 reduziert werden und die Bauabteilung usw. wird
von der Enns zur Donau übersiedelt, wo sie in Abwinden-Asten und
beim Gemeinschaftskraftwerk Stein nicht nur eine Beschäftigung,
sondern was noch viel wichtiger ist, eine bedeutende Aufgabe über-
nehmen können. Für diese gesamte Reorganisation, Aufsichtsratsaus-
wechslung und Vorstandsvergrösserung ist eine Hauptversammlung
notwendig, die im November einberufen werden soll. Bis dahin wird
Weiss mit Hermann gesprochen haben und vor allem der Verbundvorstand
wird mit Weiss und Frank die notwendigen Vorarbeiten geleistet haben.
Ich bin sehr froh, dass es doch gelungen ist, durch Aussprache mit den
LH Wenzl und Maurer, die unmittelbar von der Enns- und vom Donau-
kraftwerksproblem betroffen sind, aber ganz besonders zuletzt mit
Schleinzer die ÖVP so weit zu bekommen, dass Weiss jetzt doch ver-
handeln darf und hier nicht ein Kriegsfall entsteht. Weiss meinte,
es wäre ungünstigsten Falles von Seite der ÖVP zu erwarten, dass
sie sich bei den einzelnen Beschlüssen der Stimme enthalten werden.
Dies sei aber in der Elektrizitätswirtschaft nichts besonderes,
er selbst kann sich erinnern, dass einmal die Sozialisten, um nicht
einen Beschluss, den die ÖVP wollte, herbeizuführen, sogar dagegen
gestimmt haben, damit aber der Beschluss zustandekommt, ein Mann der
Sozialisten abwesend war. Weiss glaubt sogar, dass es diesmal inso-
ferne besser sein wird, dass wenn er nicht zustimmen kann, wenden
sich seine wahrscheinlich nur der Stimme enthalten. Mir erschien
aber viel wichtiger als diese formelle Möglichkeit der Bestellung,
dass es mir gelungen ist, Weiss als Verhandlungsmann der ÖVP in
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Elektrizitätsfragen zu erhalten. Ich kenne zwar nicht die Details
innerhalb der ÖVP, weiss nur, dass aber NR König sich als Energie-
sprecher fühlt und man mir im Parlament immer das Angebot macht, man
müsse mit ihm über diese Probleme Verhandlungen führen. Dabei ist er
sehr geschickt und sagt nicht, dass ich mit ihm verhandeln soll,
sondern dass man nur mit der ÖVP über dieses Problem sprechen könne.
Er hofft und erwartet, dass ich mich auf ein solches Glatteis begebe.
Ich denke nicht daran. Für mich ist und bleibt Weiss der einzige Ver-
handlungspartner und ich muss alles tun, um ihn auch innerhalb der
ÖVP diese Stellung zu halten.
Bei den ungarisch-österreichischen Wochen bei der Fa. Herzmansky
konnte ich in Erfahrung bringen, dass die Gesellschaft für 7 Mill. S
ungarische Waren gekauft hat, die sie überzeugt ist, verkaufen zu
können. Anstelle des vorgesehenen Essens, ich hatte mich sofort
nach der Eröffnung verabschiedet, habe ich dann mit dem Direktor
die Waren besichtigt. Die Ungarn haben qualitätsmässig einwand-
freieste Ware geschickt. Schuhe sind verhältnismässig billig.
Gute Lederqualität, nur entspricht halt nicht der Stil der Schnitt
unserem Geschmack. Dasselbe gilt für die Bekleidung. Interessant war,
dass am Vortag bereits, als die Waren ausgestellt wurden, Käufer kamen
und natürlich die Firma sofort auf Wunsch der Käufer verkaufte. Dabei
stellte sich heraus, dass die teureren handgestickten Blusen grösseren
Absatz fanden, als die maschingestickte billigeren. Ich glaube und bin
überzeugt, dass solche Verkaufswochen für das Land, welches vorgestellt
wird, von grossem Vorteil sind und dass die Firma dabei noch ein
gutes Geschäft macht. Für die Zigeunerkapelle, die Modeschau-Vor-
führungsdamen, ein Volkstanzgruppe, Amateur – zwei Ingenieure und
ein Fotograf bezahlt Herzmansky nur die Hotelrechnung und gibt
ihnen ein Taggeld. Die Frau von der Direktion, die mich betreute, mein-
te, die Ungarn seien sehr bescheiden, schon allein aus diesem Grund
werden es sicherlich minimal Kosten sein, die Herzmansky hat und dabei
einen irrsinnig guten Werbeeffekt. Bei der Eröffnung habe ich nur
erwähnt, dass der Direktor, ein ehemaliger Betriebsrat der Firma,
darauf hinwies, dass mit dieser Aktion auch preiswerte Ware verkauft
wird. Dies nützte ich, um offiziell und in aller Freundschaft zu
verlangen, dass auch die grosse Kaufhauskette sich an meiner
Preissenkungsaktion beteiligen könnte, was bisher nicht geschehen ist.
ANMERKUNG FÜR WAIS: Bitte setze dich mit dem Direktor von Herzmansky
diesbezüglich ins Einvernehmen.
Beim Vortrag im Haus der Industrie der Deutschen Handelskammer
in Österreich erwähnte ich neuerdings das Vidierungsverfahren.
Da mehrere Handelsräte aus den Oststaaten anwesend waren, habe
ich diese Gelegenheit benützt, um wieder zu dokumentieren, dass
wir mit 1. Jänner 1975 die Liberalisierung einführen werden,
und keinesfalls mit der Vidierung neue administrative restriktive
Massnahmen einführen. Wie mir der Direktor von Herzmansky ebenfalls
versicherte, als ich den Preisvergleich bei der Ungarn-Ausstellung
anstellte, hätten die Ungarn darauf gedrängt, dass er unter
gar keinen Umständen irgendwelche Preise festsetzt, die Dumping-
charakter haben könnten. Die Ungarn erkennen deutlich, dass es
hier wirklich um eine eminent wichtige Frage geht und wollen
unter gar keinen Umständen sich durch ungeschicktes Preisverhalten
das Klima in Österreich verderben. Ähnlich hoffe ich, wird es
auch bei der DDR der Fall sein. Hier hat bei den Verhandlungen
Gen.Dir. Schönherr erklärt, sie könnten einer Vidierung nicht zu-
stimmen, ja sie müssten sie mit aller Vehemenz ablehnen. Zu
diesem Zweck hatte er sogar ein Schreiben von Staatssekretär
Beil mit an mich gerichtet, wo dieser auf unseren erst jetzt abge-
schlossenen Handelsvertrag verwies und meinte, die Vidierung stehe
in krassem Widerspruch dazu. Auch hier habe ich ihm sofort in einem
Brief geantwortet und dieser der Delegation übergeben. Da ich
darauf hinwies, dass wir den Verkehr nicht einschränken wollten,
sondern nur die Notwendigkeit haben, uns zu informieren, um
gegebenenfalls die Schutzklauseln anwenden zu können, hat dann
auch dieses Land so überzeugt, dass er mehr oder minder die
Vidierung zur Kenntnis nimmt. Ich hoffe, dass es auch gelingen wird
in Bulgarien bei meiner Anwesenheit in Sofia die Bedenken zu
zerstreuen und für Polen erwarte ich diesen Angriff bei der
Anwesenheit des Ministerpräsidenten Jaroszewicz.
Meisl hat auch eine interessante Erfahrung gemacht, dass nämlich
seine eigenen Leute erklärt haben, gegen den Hemdenimport aus
Hongkong und sonstigen asiatischen Staaten gibt es keine andere
Möglichkeit, als die Entliberalisierung zu verlangen. Als ich dies
mit grössten Bedenken begründend ablehnte, habe ihm nun seine
Juristen gesagt, dann müssten sie sich eben etwas anderes aus-
denken. Ich fürchte, dass bei uns viel zu wenig in Alternativen
gedacht und gearbeitet wird. Jeder hat ein eingefahrenes Geleise,
jeder nimmt wahrscheinlich die einfachste Lösung, auch dann,
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wenn sie irgendwelche Schwierigkeiten politischer Art mit sich
bringt und denkt nicht dran, eventuelle Alternativlösungen
sofort vorzuschlagen.
ANMERKUNG FÜR WANKE: Versuche in der Grundsatzgruppe eine neue Kon-
zeption der Entscheidungshilfen für die Abteilungsleiter, Sektions-
leiter, aber letzten Endes auch für mich zu erarbeiten.
Der Kautsky-Kreis, der diesmal das er mit dem Wirtschaftsforum,
den Wirtschaftsklub und dem Verein der Gesellschaft und Wirtschafts-
wissenschaften gemeinsam Prof. Giersch geladen hatte, nicht in
der Plösslgasse, wo ich hinfuhr, sondern in der Z stattfand, war
ungeheuer gut besucht. Giersch wollte über Chancen und Risken
der Inflationsbekämpfung sprechen. Sein Vortrag war dann aber aus-
gerichtet, ob und inwieweit seine Theorie, die Inflation bekämpfen
könnte. In der Analyse der 50-, 60- und 70-er-Jahre glaubte er
einen neuen Rhythmus gefunden zu haben, in Wirklichkeit aber be-
zeichnet er die Rezessionen und die Booms nur mit anderen Typenbe-
zeichnungen nämlich Maxi-Boom, Mini-Rezession, Mini-Boom, Maxi-Re-
zession usw. Fast hat man das Gefühl, er hat sich bei der Mode einige
Fachausdrücke ausgeborgt. Seine Unterscheidung in soziologischen
Theorien der Inflationserklärung, d.h. durch Unternehmerkonzentration
und durch Gewerkschaftsaggessivität und in monetären Theorien, wonach
die Geldmengenerhöhungen jedem Preisschub vorausgeht und daher die In-
flation verursacht, ist nichts Neues. Seine praktische Anwendung war
allerdings insoferne neu, als er meinte, man müsse eine Politik
jetzt einleiten, wo man nicht auf die Inflationsraten Rücksicht
nehme, sondern wo man Jahr für Jahr sich vornimmt, 2 % Inflationsrate
zu senken. Als Signalwirkung soll dann der Staat als erstes auf die
inflationsbedingten Steuermehreinnahmen verzichten. Anleihen sollen
bereits mit dem Inflationsratenanteil verringert um 2 % erstellt
werden. Wenn derzeit ein Anleihezinssatz von 8 % notwendig ist,
soll man erklären, wir nehmen 2 % Inflationsrate für jedes Jahr
heraus und geben daher Staatsanleihen zu 4 %, sollte die Inflations-
rate sich nicht senken, dann könnte man zum Schluss einen Kauf-
kraftausgleich machen. Die Gewerkschaften sollten ebenfalls einen
flexiblen Lohnanteil mit den Unternehmern vereinbaren und auch dort
die Teuerungsrate entsprechend reduzieren. Wenn also die Lebenshaltungs-
kosten jetzt um 9 % steigen und in den Löhnen eingebaut sind, soll
man die reale Lohnerhöhung von sagen wir 3 % bei uns in Österreich
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lt. Benya-Formel anwenden, dazu jetzt die reduzierte Inflations-
rate, die zwar mit 9 % erwartet wird, aber nur mit 7 % für nächstes
Jahr und 5 % für übernächstes Jahr angenommen werden kann, weshalb
die Löhne nicht um 15 % sondern eben nur um maximal 10 % erhöht
werden sollen. Sollte sich herausstellen, dass die Inflationsrate
nicht gesenkt wird, könnte dann auch eine entsprechende Nachforderung
gestellt werden. Auch die unbedingte Vollbeschäftigung soll in eine
bedingte umgewandelt werden, wo durch Orientierungsdaten der Unter-
nehmer wissen soll, dass sich, wenn er sich nach diesen Orientie-
rungsdaten richtet, dann entsprechende Staatshilfe, wenn es daneben
gehen sollte, bekommen könnte. Kern seiner Theorie ist, dass zur
Stabilisierung die Arbeitslosigkeit mehr oder minder unangenehm
ist, die Reallöhne aber in Wirklichkeit die Arbeitslosigkeit her-
beiführen. In jeder Branche, wo man über die Arbeitsproduktivität
hinaus Forderungen stellt und durchsetzt, muss es zu einer entsprechenden
Arbeitslosigkeit kommen. Er meint deshalb, die Arbeiterschaft sollte auf
6 – 12 monatliche Reallohnsteigerung verzichten. Auf dem Kapitalmarkt
sollten nur mehr Anleihen mit geringerer Rendite gegeben werden, die
allerdings wertgesichert werden könnten. Auf dem internationalen
Kapitalmarkt seien sehr kurzfristig Anleihen derzeit äusserst ge-
fährlich, er verglich das Jahr 1975 mit dem Jahr 1929 und meinte, die
Öldollars könnten nur über die Weltbank durch langfristige Anleihen
gebunden und auch dann von der übrigen westlichen Welt verkraftet
werden. Im grossen und ganzen hatte ich den Eindruck – und viele
der Zuhörer, wie Ausch und andere, die dort anwesend waren, werden
Giersch sicher zustimmen – dass er in Wirklichkeit die Stabilisierung
auf Kosten der Arbeiter und Angestellten weitestgehend durchführen wird.
In dem Fall muss ich allerdings sagen "würde". Als mich Matzner
Giersch vorstellte, obwohl ich ihm erklärte, ich kenne ihn aus meinem
Besuch im Beirat in der BRD, da er ja eine Zeitlang auch Mitglied
des Sachverständigenbeirates war, hatte ich, ohne dass ich sein
Referat kannte, ihm mitgeteilt, dass die deutsche Bundesregierung
jetzt um der Arbeitslosigkeit Herr zu werden, doch ein entsprechenden
zusätzliche Investitionsprogramm beschlossen hat. Ich war sehr ver-
wundert, dass er über diese Mitteilung gar nicht sehr erfreut war, son-
dern eigentlich eine mehr oder minder uninteressierte Bemerkung
nur machte. Als ich seinen Vortrag gehört hatte, konnte ich mir dies
erklären. Der Herr Professor aus Kiel hätte halt in Wirklichkeit
lieber eine härtere Stabilisierungspolitik, der Bundesregierung
erwartet, auch dann, wenn diese infolge der Arbeitslosigkeit mehr
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oder minder politisch einen ungeheuer schweren Rückschlag erlitten
hätte. Ich hatte auch bei der deutsch-österreichischen Handelskammer
die Vollbeschäftigung an die Spitze meiner Ausführungen gestellt
und mehr oder minder auch durch die deutschen 950 Mill.-Investitions-
absichten erklärt, dass auch die BRD jetzt wieder auf die Vollbe-
schäftigungslinie eingeschwenkt ist. Bei allen noch so interessanten
theoretischen Überlegungen, bei allen noch so interessanten theo-
retischen Experimenten, die auch von Genossen von uns immer wieder
angestellt werden, glaube ich, dass die Arbeiterbewegung und ganz be-
sonders eine sozialistische Regierung zum Abdanken verurteilt ist,
wenn sie das Primat der Vollbeschäftigung jemals aufgibt.
Tagesprogramm, 26.9.1974
hs. Notizen (Tagesprogramm Rückseite)