Montag, 30. Juni 1975
Im SPÖ-Klub kam es zu einer interessanten Diskussion, weil Treichl
aus Vorarlberg Androsch fragte, wieso es zu dieser Differenz
zwischen Dallinger – Androsch kommen konnte, die Häuser dann pla-
nieren musste. Androsch verwies in seinem Referat dann auf die wirtschafts-
politische Situation, er gab sozusagen zuerst einen entsprechenden
Überblick über die Wirtschaftslage bevor er auf diese Vorwürfe
reagierte. Er meinte, es gäbe keine Widersprüche zwischen den für
die Sozialpolitik Verantwortlichen und ihm sondern die Gegner ver-
suchen nur solche Widersprüche zu konstruieren. In Wirklichkeit ist
das für mich ein klarer Beweis, dass die eigenen Leute ein verdammt
feines Gefühl dafür haben, selbst wenn es nur um Nuancen Differenzen
gibt innerhalb der Regierung oder gar mit anderen uns nahestehenden
Organisationen wie z.B. eben der Sozialversicherung. Der Gegner nützt
natürlich sofort diese Chance und verunsichert auch unsere eigenen
Leute. Hier hat Androsch schon recht, dass es von der ÖVP stark über-
trieben wird. Der wirkliche Sachverhalt wird kaum in der Zeitung ge-
schildert. Eine Rundfunkaussprache zwischen Dallinger, Häuser und ihm
mit den Gegnern hätte das Thema uninteressant werden lassen und niemand
kümmert sich jetzt mehr um die Details. Tull erwartet, dass die ÖVP
eine dringliche Anfrage machen wird und schlug deshalb vor, dass wir
ähnlich wie bei Zucker dem zuvorkommen sollten. Am Abend beim Heurigen
ist dann Tull zu mir gekommen und hat mir versichert, dass Sinowatz
und ich die einzigen Minister seien, mit denen man kameradschaftlich
reden und zusammenarbeiten könne. Ich habe Tull sofort erklärt, dass
dies sicher nicht stimmt zu seinem Vorschlag aber, dass man eine ent-
sprechende Initiative in einer ähnliche Anfrage entwickeln sollte, die
aber auch von Häuser im Klub abgelehnt wurde, müsse man unbedingt vorher
die Minister dafür gewonnen haben. Heindl hat damals auch zuerst mit
mir im Detail alles durchbesprochen, bevor er sich an die Klubführung
gewendet hat und diese dringliche Anfrage vorgeschlagen hatte. Ohne ent-
sprechende Vorbereitung mit den davon betroffenen Ministern geht es
nicht. Tull ist fest davon überzeugt, dass die ÖVP eine dringliche
Anfrage wegen dieser Sozialversicherungsproblematik stellen wird.
Für mich ist das ein lehrreiches Beispiel, wie eine Regierung, wenn
sie für ein Problem nicht eine eindeutige Sprachregelung hat,
und wenn mehrere Minister davon betroffen sind, sich nicht vorher auf
eine solche Sprachregelung einigen, dann sofort in der Öffentlichkeit
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der Eindruck entsteht, dass sie in sich zerstritten ist. Natürlich
setzt eine solche Politik voraus, dass man äusserst vorsichtig vorgeht
und vor allem die Kompetenz des anderen ganz genau einhält. Wenn
dann jemand in der Kompetenz über die Schnur haut, d.h. in eine andere
Kompetenz vielleicht sogar unbeabsichtigt, eindringt, dann darf der
Betroffenen nicht sofort entsprechend über die Öffentlichkeit rea-
gieren, sondern muss unter allen Umständen versuchen, die einheitliche
Auffassung herauszustreichen und zumindestens zu behaupten, dass
in seinem Einvernehmen geschehen ist. Jedwede andere Politik be-
deutet nämlich unweigerlich dass erklärt wird, die Regierung ist
in sich zerstritten. Dies ist nicht nur vor den Wahlen verheerend
sondern überhaupt meiner Meinung nach ein Mitgrund, dass die ÖVP-
Alleinregierung so schändlich Schiffbruch erlitten hat. Ausser
dass sie die wirtschaftliche Problematik nicht lösen konnte, war
der Eindruck in der Bevölkerung entstanden, dass sie in sich zer-
stritten ist. Das Ergebnis dieser Politik war dann die Wahl-
niederlage 1970.