Freitag, 26. Oktober 1973
Bei der Festsitzung im Ministerrat musste ich erleben, dass mit Recht
bei dem Austausch von Blättern über die Richtlinien für Gewährung von
Zinsenzuschüssen für die Papierindustrie einige Minister fragten, wo
gehört das Blatt hin. Ist an und für sich schon traurig, wenn- wie
ich mich überzeugen konnte – bei einigermassen Durchlesen dieser
Richtlinien eine solche Korrektur gar nicht hätte notwendig sein
müssen. So ist dann, wenn eine solche Korrektur tatsächlich erfolgt,
doch wesentlich gewisserhafter der Austausch zu bezeichnen. Damit
leidet das Image unseres Hauses glaube ich sehr stark. Natürlich
kann ich mich mit einem Schmäh sofort über die Situation hinweg-
retten, aber berühmt werden wir damit nicht. Mit Schaudern denke ich
daran, wenn wir tatsächlich das Wirtschaftsministerium, das man uns
einreden wollte, geworden wären, mit dieser Bürokratie wirklich ent-
sprechende Politik hätten machen müssen. Es wäre ein einziges Chaos
und wahrscheinlich Fiasko geworden. Voraussetzung, für ein Ministerium
wirklich in Erscheinung zu treten ist, dass sicherlich jahrzehntelange
geschulte Bürokratie dafür notwendig ist. Dann kann natürlich auch
noch ab und zu etwas vorkommen, aber was ich an Gesetzwerdung und
Durchführung in den letzten drei Jahren erlebt habe, spricht Bände.
Wenn wir hier nicht z.B. Jagoda für die Gewerbeordnung gewonnen hätten,
möchte ich nicht wissen, wie die Verhandlungen ausgegangen wären, wenn
ich nicht mit 1. Jänner 1974 das Verkehrsreferat los werde, müsste man
allein schon auf Grund der Strassenverkehrsordnung und des Kraftfahr-
gesetzes entsprechende Reorganisationen treffen. Was sich in einzelnen
anderen Abteilungen oft ereignet, wissen wir oder ich zumindestens
gar nicht, aber ich bin überzeugt, auch dort gibt es die tollsten Sujets
für Operetten. Ich selbst sage ja immer, hätten wir die Strauss, Lanner,
Millöcker usw. dann könnten wir die herrlichste Wiener Operette neu aufle-
gen lassen mit täglichen Ereignissen in der Bürokratie und im Staat.
Bei der Kranzniederlegung hatte ich bemerkt, dass Kreisky davon sehr er-
griffen ist. Er hat sich ganz dezent abgewendet und die Augen getrocknet.
Ich nehme nicht an, dass er verkühlt war, sondern ich glaube, letzten
Endes wirkt es auch immer auf mich in solchen Minuten Besinnung gibt,
die einem sicherlich zu Tränen rühren können. Ich kenne seine Motive
nicht, für mich aber ist es immer eine Frage, ob diese Opfer, seien
sie im Krieg, seien sie in der Illegalität – man legt ja zwei
Kränze an zwei verschiedenen Stellen nieder – sinnlos waren oder ob wir
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auf Grund dieser Opfer doch es besser machen konnten. Das einzige, was
mich dabei immer wieder innerlich bewegt, ist, dass in dem Moment, wo
diese Handlung in der Vergangenheit geschehen ist, dem Einzelnen gar nicht
bewusst war, dass er ein solches Opfer bringt. Da ich selbst in beiden
Situationen, sowohl im Krieg als auch illegal tätig war, das zwar verhält-
nismässig schon lange zurückliegt, getreue ich mir kein endgültiges Urteil
zu. Eines weiss ich nur, damals ist uns alles dies gar nicht so zu
Bewusstsein gekommen. Ich bin auch überzeugt, dass der kommenden Generation
dies gar nichts mehr sagt, sondern eben nur Geschichte ist, die man gegebenen-
falls in der Schule lernt.
Eines Szene hat mich tief beeindruckt. Ein ganz junger Bursche hat, als wir
vorübergingen, ein Paket Flugblätter in die Luft geworfen und geschrieen,
Österreich bleibt deutsch. Sofort stürzten sich einige Kriminalbeamte auf
ihn und aus seiner Abwehrreaktion hatte ich den Eindruck, dass er erwartet,
dass er geschlagen wird. In Wirklichkeit glaube ich, mussten die Kriminalbeam-
ten ihn nicht nur verhaften, um ihn zu verhören, sondern ich bin auch
überzeugt von den Umstehenden schützen. Der Eindruck, dass er aber Schläge
erwartet, hatte ich und dies hat mich sehr betrübt. Es geht nur leider
nicht, aber in Wirklichkeit müsste man mit ihm über die Probleme, die ihn
veranlasst haben, eine solche Haltung einzunehmen, diskutieren. Sicher
ist es nur ein kleines Häuflein, die heute noch glauben, auf der deutschen
Welle Österreich vor einem verhängnisvollen Weg bewahren zu müssen. Sicher-
lich sind darunter sehr viele Fanatiker, die überhaupt nicht überzeugt wer-
den können. Wahrscheinlich sind gerade einige junge Idealisten, die für
diese Politik missbraucht werden. Ich frage mich aber, war es nicht
1938 bei uns genauso, waren nicht auch wir ein kleines Häuflein von Leuten,
die letzten Endes den Faschismus und Nazismus nur abgelehnt haben, aller-
dings hätte auch von der nazistischen Seite eine ideologische Ausrichtung
oder Diskussion mit uns auch nichts genützt.
Kreiskys Idee, Volk und Landesverteidigung durch eine entsprechende Aktion
zu starten, finde ich für sehr gut. Organisatorisch war sie miserabel
vorbereitet, denn das Kongresszentrum war halbleer. Dass man nicht einmal
200 oder 300 Personen zusammenbringt, halte ich für lächerlich. Der Vor-
trag von Bigler war, da er ein guter Schriftsteller und Formulierer war,
hoch interessant. Der Vortrag des schwedischen Generals war fad und hat
in Wirklichkeit gar nicht das gebracht, was Kreisky erwartet hat, nämlich
dass er uns sagt, wie die Schweden das pazifistische Volk dazu gebracht
haben, dass sie heute für die Landesverteidigung etwas übrig haben. Wenn
dies überhaupt stimmt, was ich gar nicht prüfen kann und will. Der Vortrag
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Spannocchi war insofern für mich interessant, als er das erste Mal mir die
Konzeption dieser Bereitschaftstruppe vor Augen führte. Überzeugen konnte
er mich nicht, denn ich weiss nur eines, dass diese zwei Divisionen oder
15.000 Mann viel Geld kosten werden und uns im entscheidenden Fall auch
nicht helfen. Bigler hat mit Recht herausgestrichen, dass eine einzige
Motivation für den Kämpfer gibt und das ist seine Kameradschaft, d.h. der
Korpsgeist. In meiner Wehrkonzeption habe ich immer auch nur auf diese
Erfahrung, die ich selbst im Krieg gemacht hatte, aufgebaut. Selbst ein
Nazigegner wie ich war als Hilfskrankenträger bereit, einen Kameraden,
wenn er verwundet war, zu helfen, selbst dann wenn er ein SS-ler ge-
wesen ist. Das Zusammenhalten, das Nichtimstichlassen, das hat Bigler
genau erkannt, ist die einzige Chance, um ein modernes Heer in Hinkunft
wirksam zugestalten. In der Konzeption des Spannocchi wird deshalb auch
eine flächenmässige Verteidigung ganz Österreich nicht auf Partisanentruppen
aufgebaut vorgesehen. Dies halte ich für richtig. Dafür aber bräuchte man
meiner Meinung nach nicht diese ungeheuren bürokratischen Apparat, diese
irrsinnig hohen Aufwendungen in Hinkunft für diese zwei Divisionen, oder
15.000 Mann Bereitschaftstruppe sondern kleinste Einheiten, die mit
Panzerfaust ausgerüstet in ihrem spezifischen Gebiet trainiert und dies
wie eine Hosentasche kennen, wahrscheinlich als kleine Truppe dem
Feind wirklich unangenehm sein könnten. Gott sei Dank ist das nicht
mein Kaffee und ich werde daher nie in die Gefahr oder Verlegenheit kom-
men, dieses Problem lösen zu Müssen. Auf meinen Bereich, die wirtschaft-
liche Landesverteidigung umgelegt, ergibt sich hier auch eine andere
Konzeption als dies wahrscheinlich Lütgendorf und den Militärs vor-
schwebt. Grosse vorhandene Lager können nur dazu führen, um kriegsführende
Gruppen zu veranlassen, sich dieser Lager zu bedienen. Zweckmässig und ziel-
führend wäre es deshalb, dass wirklich nur in den einzelnen Haushalten
entsprechende Vorräte abgelegt sind. Immer ist nur die kleinste Einheit
bereit, sich um ihre Material erstens zu kümmern, ihre Vorräte
entsprechend zu pflegen und dies verhältnismässig ohne grossen Kosten
aufwand. Wer aber wird ein solches Modell durchdenken, durchkonstruieren
und letzten Endes finanzieren. Vielleicht aber ist auch dieses Modell
falsch.
ANMERKUNG FÜR WANKE: Ohne einen Studienauftrag zu geben, wäre es doch
interessant herumzuhören, ob es solche Überlegungen
irgendwo in der Welt gibt.
Beim Empfang der Bundesregierung in Schönbrunn, an der wirklich Gewerk-
schafter und Unternehmervertreter teilnehmen sowie andere Bevölke-
rungskreise, die kaum sonst ins Schloss Schönbrunn kommen, freute ich
mich, viele Bekannte zu treffen. Allerdings fürchte ich, dass mit dieser
Einrichtung auch in Hinkunft immer wieder dieselben Leute kommen werden.
Hier müsste man wirklich ein Rotationssystem vorsehen, das eben alle Jahre
andere Gelegenheit haben, an diesem Empfang teilzunehmen. Lustig ist, wenn
man die in den Zeitungen genannten Stadträte anspricht und erklärt, na
was sagst Du dazu. Natürlich weiss keiner etwas, streitet alles ab
und möchte vor allem einmal nicht weiter im Gespräch sein. Dafür
habe ich vollstes Verständnis. Aber wahrscheinlich lässt sich dies gar
nicht verhindern.
Tagesprogramm, 26.10.1973
Tagesordnung 92. Ministerratssitzung, 26.10.1973
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