Freitag, der 18. September 1970

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Der Bauernverband wollte auch seinen Mitgliedern gegenüber zeigen,
dass er gegen die neue Regierung genauso demonstriert wie gegen
die ÖVP-Regierung hat deshalb eine Demonstration mit anschliessender
Diskussion für den 22. September vorgesehen. Der Bundeskanzler hat
ihnen geantwortet, dass zu dieser Zeit Ceausecsu, der rum. Staats-
präsident auf Besuch weilt und deshalb kaum eine Zeit für eine
ausführliche Diskussion sei. Der Bauernverband aktzeptierte deshalb,
bereits am Freitag, den 18. seine Demonstration vorzunehmen. In
diesem Punkt hat Österreich noch immer Zustände wie sie bei
Roda Roda oder Herzmanovsky Olando geschildert werden. Revolutionen

und Demonstrationen können auch mit dem Gegener ohne weiters verein-
bart werden. Die Aussprache war ganz interessant, die Bauernvertreter
kamen mit etlichen Traktoren und Hunderten von Demonstranten, wobei
allerdings am Ballhausplatz bald mehr Rentner und sonstige Neugierige
standen, um den Spektakel mitzuerleben , als demonstrierende Bauern.
Da die ÖVP-Alleinregierung, als sie seinerzeit die Demonstration
erwartete, durch ein Hintertürl aus dem Bundeskanzleramt entwichen
ist, stellte sich fast die halbe Bundesregierung nämlich Kreisky,
Häuser, Weihsx, Androsch und ich der Delegation, die allerdings zu
unserer grössten Verwunderung mit mit 10 Vertretern erschienen
war. Sie wollten erreichen, dass wir ihnen eine fixen Termin für
den Abbau des Krisengroschens mitteilten, was selbstverständlich
weder Weihs noch Kreisky tun konnten und wollten, denn einen solchen
Erfolg konnte dem Bauernverband nicht zugestanden werden, sondern es
wurde ihnen mitgeteilt, dass alle Vorschläge, die sie gemacht hatten,
auch bezüglich des Krisengroschenabbaues geprüft werden und in
den nächsten Tagen sowieso entsprechende Verhandlungen und Bespre-
chungen mit der Präsidentenkonferenz aufgenommen werden. Unerklärlich
ist mir noch immer ihre Forderung nach kostendeckenden Preisen und
sie glauben, dass sie damit wirklich die Produktion in den Griff
bekommen. In Wirklichkeit müssten doch – wenn die Erzeugerpreise
von 2.30 auf 3.70 S je Liter erhöht werden – durch die daraus
resultierende Erhöhung der Verbraucherpreise z.B. von Vollmilch
von 4.20 auf 5.80, von Butter 42.- auf 70.- S und von Käse von
35.- auf 55.- S entsprechende Absatzrückgänge zu verzeichnen sein.



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Sie wollten unbedingt eine Zusage vom Landwirtschaftsminister, dass
er auf Grund des Preisregelungsgesetzes einen entsprechenden Antrag,
den sie einbringen wollten, behandelt. Sie waren der Überzeugung, dass
die Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern es bis jetzt
sträflich unterlassen hat, einen höheren Milchpreis auf Grund des
Preisregelungsgesetzes zu verlangen, wobei sie sich auf den § 3 des Land-
wirtschaftsgesetzes berufen, wo drinnen steht, dass Gestehungskosten
rationell gefü-hrten landwirtschaftlicher Betriebe in massgeblichen Pro-
duktionsgebieten zu untersuchen sind. Bezüglich der Weinsteuer, der
Sonderabgabe, forderten sie eine unmittelbare Aufhebung der Belastung
des Weines, konnten allerdings doch einigermassen beruhigt werden, als
man ihnen mitteilte, dass im neuen Budget höhere Ansätze vorhanden seien
werden. Am Ende der Diskussion hatten alle Regierungsmitglieder, soweit
sie das Haus verliessen, mit Applaus von den Demonstranten zu rechnen,
das zeigt wieder einmal, dass man sich jeder Diskussion jeder Gruppe
stellen muss, da hat man schon zu 50 % die Sympathien auch von Leuten die
an und für sich mit den Beschlüssen der Regierung nicht einverstanden
sind.

Der deutsche Botschafter hatte einEssen mit Aussenminister Scheel, Bundes-
kanzler und mir arrangiert und bei dieser Gelegenheit konnte ich in
Erfahrung bringen, dass sich die BRD, insbesonder Scheel, der Vorsitzende
der derzeitigen EWG sehr für eine Interimslösung mit Österreich aussprechen
wird. Er glaubt sogar, dass er bei den russisch-deutschen Verhandlungen
imstande war, die russische Partei- und Staatsführung davon zu überzeugen,
dass sie die EWG als einen Komplex zwar nicht anerkennen, aber zur
Kenntnis nehmen.

Bei der Industriellenvereinigung fand ein Wirtschafts- und Pressekolloquium
statt. Aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der deutsch-österreichischen
Handelskammer.. Das Thema lautere: Wohin treibt die Konjunktur, Wachstum
oder Stabilisierung. Das wirkliche Interesse dieser Diskussion, die mit
dem deutschen Journalisten, Redakteur Stefens von der WELT, mit deutschen
Wirtschaftspolitikern, Hauptgeschäftsführern und Sparkassenverbände-Leute
stattfand, war nur, dass die mit einer Perfektion an die Probleme heran-
gehen. Unter anderem wurde das Stabilisierungsgesetz zitiert, welches
die Bundesregierung verpflichtet, alles zu tun, um die Stabilität der
Preise zu erhalten, was sie natürlich überhaupt nicht erfüllen kann.
Die Erzeugepreise sind in Deutschland 4,6 %, die Investitionen um 10 %
die Bautenkosten um 18,5, die Lebenshaltungskosten um 4,1 und die Löhne
um 14,5 % gestiegen. In dieser Beziehung sind wir glaube ich viel


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pragmatischer und legen uns nicht solche Hemmnisse auf, wie sie
die BRD getan hat. Mussil, mein Gegenspieler, obwohl er auf der
österr. Gegenseite neben dem aus Bonn hergereisten Klaus Emmerich
mitwirkte, musste einleitend zugeben, dass die Bundesregierung doch
einiges gemacht hat, um die Stabilität zu erhalten, stiess sich aber
daran, dass der Budgetrahmen ausgedehnt werden wird. Meine Befürchtung
geht dahin, dass ähnlich wie Amerika eine Inflation Platz greift, obwohl
das Wachstum stagniert. Er hatte dafür die Bezeichnung Stag-Flation,
die auch in Österreich jetzt Platz greifen wird. Geschäftsführer Türen
erwiderte, dass in der Bundesrepublik Deutschland Möller mit dem Stabili-
sierungsgesetz jetzt die grössten Schwierigkeiten hat, denn einerseits
verlangt er zwar einen 10 %-igen Konjunkturzuschlag für die Lohn- und
Einkommenssteuer und schafft die degressive Abschreibung ab, gleichzeitig
aber glaubt ihm niemand, dass dies erstens nur vorüberhgehend ist und
zweitens dass hier das ruhig über die Bühne gehen wird. Die Gewerkschaften
haben sich ja bekanntlich schon sehr gegen diese Massnahme ausgesprochen
Nun liegt aber dem Stabilisierungsgesetz nach seiner Meinung ein normative
Aktionsmodell zugrunde und es müsste deshalb, um die hohe Beschäftigung
zu erhalten und trotz der Inflation Reibungsverluste zu verhindern, in
irgendeiner Weise der Staat in viel stärkerem Masse Massnahmen setzen.
Denn er vermutet, dass die Tarifpartner volkswirtschaftliche versagen
werden und deshalb der Staat Eingriffe wird machen müssen. Die Tarif-
hoheit, sei es auf dem Lohn- oder Preissektor, glaubt er nicht aufrecht
erhalten zu können. Ich erklärte die Massnahmen der österreichischen
Bundesregierung und wies auf die konjunkturgerechte Erstellung des
Budgets 1971 hin, bezeichnete es als Konsolidierungsbudget, weil sich
auch wenn der Budgetrahmen um 10 Mia überschritten wird und das
Defizit von 9 auf 9,5 Mia steigen wird, dass sie noch immer unter dem
vom Wirtschaftsbeirat gezogenen Limit, nämlich der maximalen Erhöhung
des Budgetrahmes und des Defizit im Bruttonationalprodukt-Ausmass zu
liegen kommen wird. Das BNP wird ja heuer sicher nominell sicher minde-
stens 10 % steigen. Betreffend der theoretischenAuseinandersetzung
ob Wachstum oder die Stabilität, entschied ich mich eindeutig für das
Wachstum, konnte darauf hinweisen, dass es immerhin möglich war, in
den vergangen 25 Jahren das Wachstum wesentlich zu vergrössern, während-
dem die Stabilitätsaposteln keinen einzigen Erfolg zu verzeichnen hatten.



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Dies veranlasste den deutschen Sparkassenvertreter Guerlain zu dem
Hinweis, dass die Voraussetzung des Wachstum oder der Expensionisten
der Kampf der Stabilisten für ein einigermassen beruhigendes Lohn-
Preis-Klima, da wir ansonsten bereits in einer galoppierenden Inflation
wären.

Anschliessend gab Bundeskanzler Kreisky einen Empfang im Palais Pallavici-
ni und da ich anschliessend sofort mit dem Zug zur Messe-Eröffnung und
Wahlversammlungen fuhr, erschien ich mit dem Strassenanzug. Da Smoking
vorgeschrieben war, verlangte der Zerberus am Eingang von mir die Ein-
ladung und ich habe sie selbstverständlich nicht bei mir gehabt, sodass
er zuerst in einem Buch nachzuschauen begann, ob ich denn überhaupt tat-
sächlich als Staribacher dort eingetragen sei. Zum Glück löste mich
Scheer aus dieser Situation, indem er darauf hinwies, dass ich der Han-
delsminister bin. Man sieht, der Kampf gegen das Protokoll wird nicht sehr
einfach sein.

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Tagesprogramm, 18.9.1970


Tätigkeit: Finanzminister
GND ID: 118503049


Einträge mit Erwähnung:
    Tätigkeit: rumän. Handelsrat, Bruder von Nicolae C.


    Einträge mit Erwähnung:
      GND ID: 11870396X


      Einträge mit Erwähnung:
        Tätigkeit: Gen.Sekr. HK, ÖVP-NR-Abg., später AR-Präs. Verbund


        Einträge mit Erwähnung:
          Tätigkeit: Kammeramtsdir. AK Wien


          Einträge mit Erwähnung:
            Tätigkeit: Landwirtschaftsminister bis 1976
            GND ID: 130620351


            Einträge mit Erwähnung:
              Tätigkeit: Vizekanzler, Sozialminister


              Einträge mit Erwähnung:
                Tätigkeit: Bundeskanzler
                GND ID: 118566512


                Einträge mit Erwähnung:
                  GND ID: 125942052


                  Einträge mit Erwähnung:
                    Tätigkeit: ORF


                    Einträge mit Erwähnung:


                      Einträge mit Erwähnung: